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Erasmus von Rotterdam

Lob der Torheit (8)

Doch mich ekelt jener Weise schon lange an. Wir wollen unsern Blick also lieber auf die übrigen angenehmen Erscheinungen richten. Von hoher Warte mag wohl einer Umschau halten, so wie die Dichter es manchmal Jupiter nachrühmen. Dann sieht er das menschliche Leben in maßloses Unheil verstrickt, in großem Elend. Er sieht die Peinlichkeiten der Geburt, die Mühen der Erziehung, die vielfältigen Ungerechtigkeiten, denen die Kindheit ausgesetzt ist, den argen Schweiß der Jugend, die Beschwerlichkeit des Alters, die harte Not des Todes. Er sieht, welch endloser Zug von Krankheiten droht, wie viele Zufälle uns auflauern, wieviel Mißgeschick uns zustößt und wie alles allerorten mit Galle getränkt ist. Ich will gar nicht erst erwähnen, was die Menschen einander an Übeln selbst zufügen, wie Armut, Gefängnis, Schande, Scham, Martern, Hinterhältigkeiten, Verrat, Schmähungen, Streitigkeiten und Betrügereien. Doch allmählich komme ich offensichtlich dazu, den Sand zu zählen.
Gegenwärtig steht es mir nicht an auszuführen, womit die Menschen das alles verdient haben und welcher zornige Gott sie zur Geburt in diesem Jammertal genötigt hat. Würde man nicht das noch so bejammernswerte Beispiel der Mädchen aus Milet billigen müssen, wenn man dies im einzelnen betrachten wollte? Haben sie nicht hauptsächlich aus Lebensüberdruß ihr Verhängnis selbst beschworen? Waren sie etwa nicht im Banne der Weisheit? Von Diogenes, Xenokrates, den Catonen, den Cassius und Brutus, die auch dazu gehören, will ich schweigen; nur auf jenen Chiron möchte ich noch hinweisen, der aus freien Stücken den Tod vorzog, obwohl er unsterblich sein durfte. Ihr seht also wohl, was einträte, wenn alle Menschen weise wären: ein neuer Lehm und eine neue prometheische Töpferhand wäre dann bald nötig. Ich aber reiche meine helfende Hand in solcher Drangsal mit Unwissenheit, Unbedachtsamkeit, manchmal mit Vergeßlichkeit gegenüber üblen Lagen, dann wieder mit Hoffnung auf eine glückliche Wendung und versüße bisweilen ein wenig mit Vergnügungen. So kommt es, daß die meisten selbst dann nicht gern vom Leben lassen, wenn die Parzen den Lebensfaden zu Ende gesponnen haben und das Leben selbst sie schon längst verlassen hat. Je weniger Grund zu weiterem Verweilen im Leben ist, um so mehr Freude macht das Leben. Es kann so gar keine Rede davon sein, daß sie von Lebensüberdruß gepackt würden. Mir allein ist es doch zuzuschreiben, daß ihr immer wieder Männer im Alter eines Nestor seht, die kaum noch Ähnlichkeit mit einem Menschen haben, lallend, blöde, zahnlos, weiß, kahl oder — um sie mehr mit den Worten des Aristophanes zu beschreiben — ungepflegt, krumm, trübselig, runzlig, glatzköpfig, ohne Gebiß und ohne Geschlechtstrieb, die aber doch so am Leben hängen und sich so jugendlich gebärden, daß der eine sein Haar färben läßt, der andere seine Glatze unter einer Perücke birgt, der dritte ein falsches Gebiß gebraucht und wieder ein anderer sich in ein Mädchen verliebt, wobei er es mit verliebtem Unfug jedem jungen Mann zuvortut. Dem Tode nahe und reif für das Grab, führen sie noch ein junges Weibchen heim, ganz gleich, ob sie ohne Mitgift ist und änderen Nutzen bringt, und das alles ist so gang und gäbe, daß es fast noch gerühmt wird.
Ein noch köstlicheres Schauspiel bieten aber alte Vetteln. Längst schon Greisinnen, dem Tode ausgeliefert und gleichsam so voll Leichengeruch, daß sie von den Toten auferstanden scheinen, haben sie trotzdem immer noch das „Freut euch des Lebens" im Munde, sind voll Brunst und bockslüstern, wie die Griechen sagen. Sie scheuen keine Kosten, um sich einen Phaon zu ködern, schminken sich ständig und weichen nicht vom Spiegel. Hemmungslose Begierde plagt sie, und sie zeigen ihren welken und schlaffen Busen in einem gewagten Dekolleté. Ausgelassene Lieder sollen den altersschwachen Trieb aufmuntern, dazu Trinkgelage, Tanz mit jungen Mädchen und verliebte Briefwechsel.
Alle Welt lacht über solche unbestreitbaren Torheiten, doch sie gefallen sich selbst dabei, haben ihre Lust und salben sich mit dem glückbringenden Honig meiner Gunst. Die aber darüber lächeln, sollten lieber erwägen, ob sie es für richtiger halten, mit solcher Torheit das Leben zu versüßen oder sich am nächstbesten Balken aufzuhängen. Der Hinweis auf die Schändlichkeit solchen Verhaltens trifft meine Toren nicht, denn sie haben kein Gefühl für die Schlechtigkeit oder schlagen es einfach in den Wind. Höchstens ein Stein, der ihnen aufs Haupt fiele, würde von ihnen als Übel empfunden. Übrigens bringen Scham, Ruchlosigkeit, Unzucht und Schlechtigkeiten nur Schaden, wo man ein Gefühl dafür hat. Fehlt dies, sind es nicht einmal Übel.
Was stört es dich, ob das ganze Volk dich auszischt, wenn du mit dir selbst zufrieden bist? Die Torheit allein verschafft dir solche Freiheit. Doch ich glaube, die Philosophen widersprechen mir: Das ist ja gerade das Jämmerliche, in Torheit befangen zu sein, zu irren, sich zu täuschen und keine Ahnung zu haben, unwissend zu sein. Im Gegenteil, das eben heißt Mensch sein! Ich weiß wirklich nicht, warum sie es jämmerlich nennen, wo ihr mit dieser Veranlagung geschaffen und geboren seid, und dies doch allgemeines Los ist. Was seiner Art getreu bleibt, kann man aber nicht elend nennen, wie ja auch keiner den Menschen beklagt, weil er nicht fliegen kann wie die Vögel, nicht wie das andere Getier als Vierfüßler umherläuft und kein Gehörn trägt wie der Stier. Sonst müßte er allerdings das prächtigste Pferd eine Schindmähre nennen, weil es keine Grammatik gelernt hat und keinen Kuchen frißt, und einen Stier müßte er mißachten, weil er nicht zur Gymnastik taugt. Wie nun ein Pferd ohne Grammatikkenntnisse keine Schindmähre ist, so ist auch ein törichter Mensch keineswegs unglücklich; denn die Torheit gehört ja zu seiner Natur.
Doch die Wortfechter werden wieder nicht lockerlassen. Bildung, so werden sie sagen, gehört zum Wesen des Menschen, da er mit ihrer Hilfe künstlich ergänzt, was ihm die Natur versagt hat. Kann man denn überhaupt annehmen, die Natur, die bei Flöhen, Pflanzen und Blumen so peinlich gesorgt hat, hätte allein den Menschen vernachlässigt, und man wäre auf jene Künste angewiesen, die der für den Menschen so unselige Erfinder Theuth zu unserm vollen Verderben ersonnen hat, Künste, die so wenig zum Glück verhelfen, daß sie sogar das gefährden, für das sie eigentlich erfunden sein sollen, wie jener fabelhaft kluge König bei Platon in seinen Worten über die Erfindung der Buchstaben glänzend beweist. So sind Wissenschaften und Künste mit allem übrigen Unheil in das menschliche Leben eingedrungen und kommen von den Urhebern aller Widerwärtigkeiten, den Dämonen, die ihren Namen sogar diesem Umstände verdanken, indem der griechische Name ja „Wissende" bedeutet. Im goldenen Zeitalter war die Menschheit ja auch harmlos und frei von dem Rüstzeug der Wissenschaften und Künste, lebte nur im Vertrauen auf ihren natürlichen Instinkt. Was sollte auch die Sprachwissenschaft, da alle die gleiche Sprache hatten und man sie nur gebrauchte, um einander zu verstehen? Wozu hätte man Dialektik nötig gehabt, wo es keinen Meinungsstreit gab? Was sollte man mit der Rhetorik anfangen, da man keine Prozesse führte? Was sollte Gesetzeskenntnis, da es doch keine schlechten Sitten gab, die zweifellos der Ursprung guter Gesetze sind? Man war zu ehrfürchtig, um die Geheimnisse der Natur aufzudecken, die Größe, Bahn und Wirkung der Gestirne und den verborgenen Ursprung der Dinge zu erforschen, und hielt es für gottlos, als sterblicher Mensch über das gegebene Maß hinaus nach Wissen zu trachten.
Das vermessene Streben nach Kenntnis der Verhältnisse oberhalb des Himmelsgewölbes kam damals keinem in den Sinn. Als aber der reine Glanz des goldenen Zeitalters allmählich verblaßte, brachten zuerst üble Erfinder die Künste auf, doch nur wenige machten sich diese zu eigen. Das anmaßliche Wissen der Chaldäer und die müßige Leichtfertigkeit der Griechen vermehrten sie später um sechshundert. Es sind arge Kreuze des Geistes, so daß die Grammatik allein voll ausreichen würde als Marter für das ganze Leben.





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