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Erasmus von Rotterdam

Lob der Torheit (10)

Das Vorrecht der Einfalt und Wahrhaftigkeit ist doch ebenfalls ein beachtlicher Vorzug der Toren. Was verdient aber höheres Lob als die Wahrheit? Die bei Platon überlieferte sprichwörtliche Äußerung des Alkibiades nimmt die Wahrheit für den Wein und die Jugend in Anspruch; trotzdem kommt das ganze Lob zuletzt mir zu, was Euripides bezeugt, von dem wir das berühmte Wort haben, daß ein Tor allein offen redet. Was ein blöder Mensch innerlich fühlt, kündet sein Gesicht an, und er trägt das Herz auf der Zunge. Die Weisen dagegen sind doppelzüngig, woran der gleiche Euripides erinnert. Mit der einen Zunge verkünden sie die Wahrheit, mit der ändern den Zeitgeschmack. Es ist ihre Art, weiß zu machen, was schwarz ist, und in einem Atemzuge kalt und warm zu erscheinen, etwas ganz anderes verborgen im Herzen zu tragen und etwas anderes auszusagen. In solch äußerer Fülle scheinen mir die Fürsten in dieser Hinsicht doch sehr unglücklich, weil sie von niemand die Wahrheit hören können und Lobhudler als Freunde ansehen müssen.
Vielleicht meint nun jemand, die Fürsten scheuten die Wahrheit und mieden die Weisen, weil sie befürchteten, es könnte einer auftreten, der mehr Wahrheit, als angenehm ist, zu sagen wagte. Das ist nun der wunderliche Vorzug meiner blöden Gefolgschaft, daß man von ihnen nicht nur die Wahrheit, sondern sogar offenbare Beschimpfungen mit Vergnügen annimmt. Es geht so weit, daß das gleiche Wort, das im Munde eines Weisen zu einem todwürdigen Verbrechen würde, im Munde eines Narren unglaubliches Vergnügen hervorruft. Wahrheit hat nämlich eine gewisse ursprüngliche Gabe, Freude zu bereiten, sofern sie sich von Beleidigung freihält. Diese Gabe aber haben die Götter einzig den Albernen vorbehalten. Fast aus dem gleichen Grunde haben die Frauen eine Schwäche für diese Art Menschen, da sie von Natur aus mehr zu Vergnügung und Schäkerei neigen. Was sie auch mit ihnen anstellen, selbst wenn es bisweilen reichlich ernsthaft ist, legen sie doch als Scherz und Spiel aus. Dieses Geschlecht ist ja erfinderisch, besonders wenn es gilt, den Sünden ein Mäntelchen umzuhängen. Um aber auf das Glück der Blöden zurückzukommen: Wenn sie ihr Leben in Behaglichkeit verbracht haben, wandern sie ohne Todesfurcht und -gefühl geradewegs in die elysischen Gefilde, um dort die frommen und müßigen Seelen mit ihrer Spielerei zu unterhalten.
Vergleichen wir nun einmal einen Weisen mit dem Los der Narren! Stelle dir lieber sogar ein Muster an Weisheit vor, einen Menschen, der die ganze Kindheit und Jugend mit dem Studium der Wissenschaften vertrödelt, den besten Teil des Lebens mit unaufhörlichen Nachtwachen, Sorgen und Schweiß verdorben und auch sonst im Leben sich kein bißchen Vergnügen erlaubt hat, der immer knauserig, arm, gedrückt, finster, ungerecht und hart gegen sich selbst war, von Bleichsucht, Magerkeit, Kränklichkeit und Triefäugigkeit gezeichnet, von Greisentum und Weißhaarigkeit vor der Zeit entstellt und vor der Zeit aus dem Leben fliehend. Was macht es schon, wenn so einer stirbt, der nie gelebt hat? Da habt ihr das Bild eines trefflichen Weisen! Doch hier quaken die Frösche der Stoa wieder gegen mich. Nichts ist elender als der Unverstand, sagen sie, und auffallende Torheit grenzt an Unverstand oder ist vielmehr Unverstand. Was heißt denn anders unverständig sein als irren? Und jene sind ganz im Irrtum befangen. Auch diesen Trugschluß wollen wir mit Hilfe der Musen verscheuchen. Sie haben zwar allen Scharfsinn aufgewandt, haben aber, wie Sokrates bei Platon lehrt, Venus zerteilt und zwei daraus gemacht, Cupido in zwei Wesen aufgelöst. Ebenso müßten jene Dialektiker den Unverstand vom Unverstand scheiden, sofern sie Verstand für sich in Anspruch nehmen wollten. Aller Unverstand ist ja nicht gleichmäßig anrüchig, sonst hätte Horaz gewiß nicht gesagt: „Täuscht mich denn der liebenswürdige Unverstand?", und Platon hätte die Begeisterung der Dichter, Seher und Liebenden nicht zu den vorzüglichsten Gütern des Lebens gerechnet. Auch hätte die Sibylla die Mühe des Aeneas nicht unverständig genannt.
Es gibt wirklich eine zweifache Art Unverstand, eine, die die Rachegöttinnen immer aus der Unterwelt schicken, wenn sie mit ihren schlangendrohenden Häuptern die Hitze des Krieges, unersättlichen Golddurst, schändliche und ruchlose Liebesleidenschaft, Meuchelmord, Blutschande, Kirchenschändung oder ähnliches Unheil über das menschliche Herz verhängen oder aber das schuldbeladene Gewissen mit Raserei und Fackeln des Schreckens jagen. Die andere Art Unverstand unterscheidet sich sehr davon und ist von allen besonders begehrt, wohl weil sie von mir ausgeht. Sie wird euch zuteil, sooft eine liebenswürdige Täuschung den Geist von Ängsten und Sorgen frei macht und ihn mit vielfältiger Lust beglückt. Solchen Irrtum wünscht sich Cicero wie ein großes Göttergeschenk in einem Briefe an Attikus, doch nur um das Gefühl der unzählbaren Übel loszuwerden. Auch jener Argiver hatte allen Grund zu seinem „Unverstand", als er Tag für Tag allein im Theater lachen, klatschen und sich freuen wollte; denn er glaubte, daß dort wunderbare Schauspiele aufgeführt würden, obwohl überhaupt keine Aufführung war und obwohl er sich sonst im Leben durchaus bewahrte, bei den Freunden beliebt war, gefällig gegen die Gattin und nachsichtig gegen seine Untergebenen sein konnte und bei einer Flasche Wein nicht gleich aus der Fassung geriet. Als die Verwandten ihn mit allerlei Quacksalberei zur Besinnung gebracht hatten, haderte er mit den Freunden und rief ihnen zu: „Beim Pollux, Freunde, ihr habt mich umgebracht." Ihr handelt übel, wenn ihr jemand so ein Vergnügen und damit gewaltsam die Binde von den Augen nehmt. Das ist wirklich so; gerade sie befanden sich im Irrtum und hätten einen Zaubertrank haben müssen, die solch glückbringenden und behaglichen Unverstand wie einen Übelstand mit Giftmischerei vertreiben zu müssen glaubten.
Damit will ich keineswegs gesagt haben, daß jeder beliebige Irrtum des Gefühls oder Geistes den Namen Unverstand verdient. Als Unverstand in unserm Sinne wird man nicht gleich bezeichnen, wenn irgendein Tölpel ein Maultier für einen Esel oder ein poetisches Machwerk für eine erstklassige Dichtung hält. Wenn aber jemand nicht nur einen Einfall hat, sondern sich in seinem Urteil irrt und ständig in Widerspruch zur landläufigen Meinung befindet, wird man von Unverstand oder Wahn sprechen dürfen, so beispielsweise, wenn jemand beim Geschrei eines Esels wunderbare Symphonien zu vernehmen glaubt oder ein Habenichts von geringer Herkunft sich als Lyderkönig Krösus vorkommt. Wird solcher Wahn, wie es meistens geht, zur Lust, verursacht er allerlei Freude, sowohl bei den Befallenen als auch bei der Umgebung, obwohl diese nicht den gleichen Tick hat. Denn der Wahn ist viel weiter verbreitet, als man gemeinhin annimmt. Ein Verrückter lacht über den ändern, und sie bereiten sich gegenseitig Vergnügen. Oft genug habt ihr das ergötzliche Schauspiel, daß der größere Narr über den kleineren um so hemmungsloser lacht.
Jeder ist um so glücklicher, je reichhaltiger nach der Meinung der Torheit seine Verrücktheit ist, nur muß er bei jenem Wahn bleiben, der uns gemäß ist. Er ist so allgemein im Schwange, daß man unter allen Menschen kaum einen finden dürfte, der jederzeit bei Sinnen wäre und nicht im Zauberbann irgendeines Wahnes stände. Wer einen Kürbis für eine Frau hält, gilt allgemein als verrückt, weil so etwas nur selten vorkommt. Wer aber auf seine Gattin, die er mit anderen teilen muß, mehr als auf Penelope schwört und sich dabei in einem glücklichen Irrtum ungebührlich selbst erhebt, gilt nirgendwo als verrückt, weil Ehemänner häufig in dieser Lage erscheinen. Dazu gehören auch die Jagdwütigen, denen nichts über die Tierhetze geht und die ein unglaubliches Vergnügen zu empfinden meinen, sooft sie den widerwärtigen Schall der Hörner und das Gebell der Meute hören. Fast möchte ich annehmen, daß sie die Hundelosung wie Zimtgeruch empfinden. Mit welchem Behagen wird das Wild zerlegt? Ochsen und Hammel überläßt man dem niederen Volk, Wild darf nur von einem Edelmann ausgeweidet werden. Barhäuptig kniet er auf der Erde und schneidet mit dem einzig zulässigen Waidmesser nach vorgeschriebenem Ritus andächtig bestimmte Stücke in fester Reihenfolge herunter. In stummer Bewunderung verharrt unterdessen das Jagdgefolge wie bei einer ungewöhnlich heiligen Handlung, obwohl man das Schauspiel schon mehr als tausendmal gesehen hat. Wer ein Stückchen von der Bestie kosten darf, kommt sich vollends fast geadelt vor. Während diese Menschen bei ständiger Jagd und Fresserei im Grunde nur ihre eigene Entartung zum Tier erreichen, meinen sie doch ein königliches Leben zu führen.
Ihnen gleichen aufs Haar die unersättlich Baulustigen, die einmal einen Rundbau durch ein Langhaus, dann wieder ein Langhaus durch einen Rundbau ersetzen. Sie sind ohne Ziel und Maß und wissen, wenn sie schließlich auf den Hund gekommen sind, nicht mehr, wo sie wohnen und wovon sie leben sollen. Was haben sie erreicht? Sie haben einige Jahre mit größtem Vergnügen verbracht. Ihnen kommen meines Erachtens die Wundersüchtigen am nächsten, die das Wesen der Dinge umkehren wollen und zu Wasser und zu Lande auf der Suche nach dem Stein der Weisen sind. So mächtig treibt die trügerische Hoffnung sie, daß sie weder Mühen noch Aufwand scheuen, mit erstaunlichem Erfindergeist stets etwas Neues ausdenken, um sich schließlich doch zu täuschen und sich selbst angenehm zu betrügen, bis sie mittellos dastehen und sich nicht einmal mehr ein Öfchen aufstellen können. Sie können sich nicht genug tun in behaglichen Träumen und ermuntern die ändern nach Kräften zu dem gleichen Glück. Wenn schon alle Hoffnung dahin ist, bleibt ihnen doch die eine Weisheit, der überreiche Trost: Großes auch nur gewollt zu haben, ist schon genug. Dann klagen sie noch über die Kürze des Lebens, das für die Größe des Werkes nicht ausreichte.





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